Im ersten Teil unserer Serie “21 Tage New Work” haben wir gesehen, wie stark sich die Bedeutung der Arbeit im Laufe der Menschheitsgeschichte gewandelt hat. Heute vertiefen wir diesen Blick auf die Gegenwart und Zukunft der Arbeitswelt und beschäftigen uns mit Frithjof Bergmann – einem Visionär, der uns in Bezug auf unser Arbeiten die Frage stellt: Was wir wirklich, wirklich wollen?
Arbeiten in der VUCA-Welt
Unsere heutige Arbeitswelt ist geprägt von tiefgreifendem Wandel: Globalisierung, Digitalisierung, Automatisierung und gesellschaftliche Veränderungen führen zu immer neuen Herausforderungen und Unsicherheiten. Diese Entwicklung wird häufig mit dem Begriff der VUCA-Welt beschrieben – ein Konzept, das in den 1990er Jahren am United States Army War College entstand. VUCA steht für Volatilität (Volatility), Unsicherheit (Uncertainty), Komplexität (Complexity) und Mehrdeutigkeit (Ambiguity) – vier Merkmale, die unsere heutige Gesellschaft und Wirtschaft maßgeblich prägen. Diese Prinzipien erfordern neue Arbeits- und Führungsansätze: Vernetzung, Offenheit, Partizipation und Agilität (VOPA-Prinzip nach Dr. Willms Buhse).

In einer solch dynamischen Umgebung reicht es also nicht aus, auf alte Strukturen und traditionelle Arbeitsmodelle zu setzen. Unternehmen und Organisationen müssen flexibel und agil agieren, um langfristig noch erfolgreich zu sein. Denn, Organisationen sind lebende Systeme, deren Gesundheit sowohl Mittel als auch Zweck ist. Eine gesunde Organisation basiert auf gesunden Menschen und verfolgt einen tieferen Sinn. Jeder Mensch hat Potenziale, die es zu entfalten gilt und das ist eine zentrale Führungsaufgabe. Selbstführung wird dabei zum Schlüssel für Potenzialentfaltung, welche wiederum zu außergewöhnlicher Leistung führt.
Neue Arbeit, Neue Kultur
Eine Antwort auf diese Herausforderungen liegt in einem neuen Verständnis von Arbeit, einem Konzept, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt und sich an seinen individuellen Bedürfnissen orientiert. Hier kommt Frithjof Bergmann ins Spiel, der Begründer des Konzepts der „Neuen Arbeit“ (New Work). Doch wer war Bergmann, und warum ist sein Konzept heute relevanter denn je?

Frithjof Bergmann (1930–2021) ist sozusagen der “Godfather of New Work“. Er war Philosoph, Anthropologe und Sozialkritiker. Sein Lebensweg war geprägt von Umbrüchen: Geboren in Sachsen, floh er während der NS-Zeit nach Österreich und wanderte später in die USA aus. Dort arbeitete er in unterschiedlichsten Berufen – als Tellerwäscher, Preisboxer, Hafenarbeiter, Theaterautor und Landarbeiter in der Selbstversorgung. Diese Erfahrungen prägten seine Sicht auf die Bedeutung von Arbeit und die Rolle der Freiheit in der modernen Gesellschaft.
Ein Denker zwischen Freiheit und Arbeit
Nach einem Studium der Philosophie lehrte Bergmann an renommierten Universitäten wie Princeton, Stanford und Berkeley. Doch sein akademisches Interesse galt nicht nur theoretischen Fragen – er wollte praktische Lösungen für die Probleme der Arbeitswelt entwickeln. Sein erstes philosophisches Werk „Die Freiheit leben“ (engl. On Being Free, 1977) legte den Grundstein für seine Theorien zur “Neuen Arbeit”.
“Echte Freiheit entsteht, wenn Menschen erkennen, was sie wirklich, wirklich tun möchten, und die Möglichkeit erhalten, dies umzusetzen.” (Frithjof Bergmann)
In den 1980er Jahren begann Bergmann sich intensiv mit den Auswirkungen der Automatisierung auf den Arbeitsmarkt zu beschäftigen. Dies geschah in einer Zeit der Rezession in den USA Anfang 80er Jahre, als Computer überraschend schnell in den Fabriken eingesetzt wurden. Das betraf vor allem Flint, eine der größten Automobilstädte der USA, etwa so groß wie Wolfsburg für Deutschland. Man sprach damals von Entlassungen in einer Größenordnung, die alles bisher Dagewesene übertraf. In dieser Zeit gründete Bergmann mit einer kleinen Gruppe das erste Zentrum für Neue Arbeit.
Mit der zunehmenden Automatisierung verloren viele Menschen ihre Arbeit, und die Gesellschaft stand vor einem grundsätzliches Problem: Was passiert, wenn die klassische Erwerbsarbeit nicht mehr für alle verfügbar ist? Für Bergmann war dies keine kurzfristige Krise, sondern ein strukturelles Problem des Kapitalismus. Er kritisierte, dass die traditionelle Arbeitswelt auf einem überholten Modell basiere, das noch aus der Zeit der industriellen Revolution stamme:
- Arbeit wird als Zwang und Mittel zum Überleben verstanden, nicht als Quelle der Erfüllung.
- Nur um ihre Existenz zu sichern, werden Menschen zu Arbeiten gezwungen, die sie nicht gern tun.
- Technisierung und Automatisierung machen viele Berufe überflüssig – doch statt neue Arbeitsmodelle zu entwickeln, wird am alten System festgehalten.
- Arbeit dient in erster Linie dem Wachstum und der Gewinnmaximierung von Unternehmen, nicht der menschlichen Entfaltung.
Bergmann sah in dieser traditionellen Lohnarbeit eine „milde Krankheit“ – ein System, das den Menschen zwar das Überleben sichert, sie*ihn aber nicht erfüllt. Viele Arbeitmehmer*innen würden sich nichts sehnlicher wünschen, als endlich in Rente zu gehen oder die Arbeitswoche zu verkürzen. Warum jahrzehntelang etwas tun, was man eigentlich nicht will? Diese fundamentale Kritik führte ihn zu einer radikalen Neuorientierung der Arbeit. Sein Grundlagenwerk dazu „Neue Arbeit, Neue Kultur“ erschien 2004 zunächst auf Deutsch, 2019 folgte die englische Version „New Work, New Culture“.
„Arbeit, die ich wirklich, wirklich will“
Bergmanns Vision war eine radikale Neuinterpretation dieses Systems: Die Arbeit der Zukunft (New Work) sollte nicht nur dem Broterwerb dienen, sondern auch der Selbstverwirklichung und zur persönlichen Entfaltung. Menschen sollten Tätigkeiten ausüben, die ihren Talenten und Leidenschaften entsprechen. Anstelle des traditionellen Systems der Lohnarbeit plädierte er für intelligentere, humanere Arbeitsmodelle.
Im Zentrum von Bergmanns Philosophie steht eine einfache, aber tiefgehende Frage: „Was ich wirklich, wirklich will?“
Arbeit ist Lebenszeit – sie sollte sinnvoll und erfüllend sein.
Frithjof Bergmanns Konzept der Neuen Arbeit basiert auf einem einfachen, aber revolutionären Gedanken: Arbeit soll kein notwendiges Übel sein, sondern ein Ausdruck der Selbstverwirklichung. Doch wie sieht das konkret aus?
1. Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen
Bergmanns wohl bekannteste Frage lautet: „Was willst du wirklich, wirklich tun?“
Er argumentierte, dass Menschen nur dann glücklich und produktiv sind, wenn sie etwas tun, das sie intrinsisch motiviert. Statt Arbeitnehmer in vorgefertigte Jobprofile zu pressen, sollte die Arbeitswelt so gestaltet werden, dass jeder Mensch seine einzigartigen Talente entfalten kann.
Diese Freiheit bedeutet aber auch Verantwortung. Die Menschen müssen sich aktiv mit der Frage auseinandersetzen, was sie aus ihrem Leben machen wollen. Unternehmen und Gesellschaften sollten Strukturen schaffen, die diese Suche ermöglichen, statt Menschen in sinnlose Beschäftigungen zu zwingen.
2. Die Dreiteilung der Arbeit: Erwerbsarbeit, Berufung, Eigenarbeit
Bergmann schlug vor, die traditionelle 40-Stunden-Woche aufzubrechen und die Arbeit auf drei Säulen zu verteilen:
- Erwerbsarbeit: Die klassische Lohnarbeit wird auf ein Minimum reduziert. Sie soll lediglich der finanziellen Absicherung dienen, aber nicht das Leben dominieren.
- Calling (Berufung): Menschen sollen die Möglichkeit haben, ihre wahre Leidenschaft zu finden und auszuüben – eine Arbeit, die sie „wirklich, wirklich“ machen wollen.
- Eigenarbeit: Bergmann sah in der technologischen Entwicklung die Chance für eine High-Tech-Selbstversorgung. Durch moderne Produktionstechnologien wie 3D-Drucker könnten Menschen viele Dinge selbst herstellen und wären nicht mehr vollständig auf Lohnarbeit angewiesen.
Dieser Ansatz ziele auf mehr Autonomie und Unabhängigkeit ab und ermögliche eine Gesellschaft, in der Arbeit nicht mehr ein Zwang, sondern eine Wahl sei.
3. Arbeit als Teil einer neuen Kultur
Bergmann betonte, dass New Work nicht nur ein ökonomisches Modell sei, sondern eine kulturelle Revolution erfordere. Wie wir Arbeit definieren, ist tief in unseren gesellschaftlichen Normen verankert. Wer nicht arbeitet, gilt als faul. Wer über alternative Arbeitsmodelle nachdenkt, wird oft als unrealistisch abgestempelt. Hier forderet Bergmann ein radikales Umdenken:
- Arbeit dürfe nicht mit Selbstwert gleichgesetzt werden.
- Technologie sollte den Menschen befreien, nicht ersetzen.
- Gemeinschaften sollten durch Kooperation und Eigenverantwortung gestärkt werden.
In der Automatisierung sah er keine Bedrohung, sondern die Chance, Arbeit neu zu denken – hin zu mehr Sinn, Selbstbestimmung und sozialer Teilhabe.
New Work heute: Ist Bergmanns Vision realistisch?
Heute, Jahrzehnte nach Bergmanns ersten Konzepten, ist New Work in aller Munde. Doch wie viel hat sich wirklich verändert?
Einerseits hat sich die Arbeitswelt durch Digitalisierung und Remote Work flexibilisiert – hybride Arbeitsmodelle, agile Teams und kreative Freiräume sind heute selbstverständlicher als noch vor 30 Jahren. Andererseits bleibt die traditionelle Lohnarbeit für die Mehrheit der Menschen eine Realität.
Die Herausforderungen von New Work:
- Gesellschaftliches Umdenken: Die Idee, dass Menschen ihre Berufung finden sollen, setzt ein völlig neues Bildungssystem voraus.
- Wirtschaftliche Strukturen: Unternehmen sind weiterhin stark auf klassische Arbeitsmodelle ausgerichtet.
- Technologische Entwicklung: Automatisierung könnte New Work ermöglichen, aber auch neue Abhängigkeiten schaffen.
Trotz dieser Herausforderungen bleibt Bergmanns Idee eine der radikalsten und visionärsten Konzepte zur Zukunft der Arbeit. Die Frage, die bleibt: Sind wir bereit, Arbeit wirklich neu zu denken?
„Das Ziel der Neuen Arbeit besteht nicht darin, die Menschen von der Arbeit zu befreien, sondern die Arbeit so zu transformieren, dass sie freie, selbstbestimmte, menschliche Wesen hervorbringt.“ – Frithjof Bergmann
Frithjof Bergmanns Konzept von New Work ist nicht nur ein Modell für flexibles Arbeiten, sondern eine grundlegende Kritik an unserem Verständnis von Arbeit. Er fordert uns auf, Arbeit nicht als Zwang oder Mittel zum Zweck zu sehen, sondern als eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. 2019 besuchten Christoph Magnussen und Michael Trautmann vom Podcast “On the Way to New Work” Frithjof Bergmann in den USA für ihre 100. Folge. Aus dem Interview ist ein sehr bewegendes Video entstanden, das ich an dieser Stelle nur wärmstens zum Anschauen empfehlen kann. Sicherlich auch eines der letzten, wenn nicht das letzte Interview mit Friethjof Bergmann.
Die Zukunft der Arbeit liegt in unseren Händen – und beginnt mit der Frage: „Was wir wirklich, wirklich wollen?“
Nachdem wir uns intensiv mit Frithjof Bergmanns visionärer Idee von New Work beschäftigt haben, stellt sich nun die praktische Frage: Wie finden wir eigentlich heraus, was wir selbst wirklich, wirklich wollen? Um Dich auf Deinem persönlichen Weg zu Deiner erfüllenden Arbeit zu unterstützen, lade ich Dich nun zu einer leinen Übung ein, die Dich Deinen individuellen Wünschen, Talenten und Leidenschaften näher bringt.
- Frage Dich: „Was will ich wirklich, wirklich tun?“
- Stelle Dir morgens die Frage: „Was will ich heute wirklich, wirklich tun?“
- Wenn Du das tun wolltest, was Du tun könntest: Was würdest Du wirklich, wirklich tun?
- War war ich in meinem bisherigen Berufsleben glücklich und warum?
- Wann war ich das letzte Mal wirklich, wirklich glücklich und voll im Flow bei der Arbeit? Was müsste passieren, damit das öfter passiert?
- Welche Arbeit oder welches Projekt hat mir am meisten Spaß gemacht? Und warum eigentlich? Wie waren die Rahmenbedingungen? Wie war die Zusammenarbeit im Team?
- Als Du das letzte Mal einen wirklich guten Tag hattest, was war da anders als an den anderen Tagen?
- Welche Aufgaben möchte ich auf keinen Fall (mehr) machen?